I.

Wie jeden Morgen steht im obersten von vier Stockwerken Sessa Glitsch
auch sonntags auf. An Sonntagen aber gönnt sie sich ein Frühstück: Sie
schneidet eine fingerdicke Scheibe Butter ab und beisst sich von den vier
Ecken zur Mitte vor. Danach spült sie ihren Fettmund mit einem grosszügigen
Schluck Orangensaft und kaut der Flüssigkeit nach.

An irgendeinem Sonntag, die Zeit wie immer aufgehoben, beschliesst Sessa
Glitsch, nur noch ein- und nicht mehr auszuatmen. Sie versucht deshalb, den
Brustkorb nicht nur zu wölben, sondern die Rippenbögen seitlich zu sprengen.
Ein, nicht aus, ein, nicht aus, ein, nicht aus, ein – es geht nicht mehr.

Jeden Tag, also auch an diesem Sonntag, meldet sich Sessa Glitsch für einen
Newsletter an, damit sie wenigstens einmal pro Tag jemand mit ihrem
vollständigen Namen anspricht.

Auf der Suche nach etwas Neuem streift Sessa Glitsch, an Sonntagen vor
allem, durch die Wohnung. Beim Streicheln über die dünnen Stacheln einer
kleinen Sukkulente auf dem Fenstersims mit dem Fingernagel des rechten
Zeigefingers entsteht eine Tonleiter.

Abends kann sich Sessa Glitsch, die an Sonntagen mit niemandem spricht,
reden riechen. Dazu steht sie vor den Spiegel in ihrem Badezimmer und sagt:
«Es ist auch heute wieder ein Sonntag geworden.» Und dann nimmt sie, von
ihrem Spiegelbild ausgehend, einen Geruch wahr, den sie nicht beschreiben
kann, aber aus tausend Mündern als ihren erkennen würde.

Auch heute, denkt Sessa Glitsch wie jeden Sonntagabend, wird wieder nichts
passiert sein. Sie bemüht sich, das am Frühabend zu denken, um dem Tag
noch Gelegenheit zu geben. Anschliessend überlegt sie jeweils, was noch
passieren sollte, und findet meistens, so auch heute, nichts. Und behält Recht.


Auszug aus Es ist wieder ein Sonntag geworden.
Dieser Text entstand, mentoriert von Michael Fehr, im Rahmen der Literaturplattform double des Migros-Kulturprozent.